Loge In Treue fest
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„Das Phänomen der Besessenheit (Krankheit, Trance, Dämonenaustreibung) als Grenzerfahrung. Zum Verhältnis von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und mystischer Erfahrung“

Die folgenden Gedanken, Überlegungen und Feststellungen stehen mit den „Erfahrungen“ im Zusammenhang, die ich in Marokko während der Feldforschungen für meine Dissertation erlebte. Auf dem Gebirgszug des Atlas lernte ich in 15 Dörfern Menschen kennen, die sich als „Kinder“ eines Heiligen verstehen und die in einer Bruderschaft vereint sind. Dieser Heilige, der im 15. Jahrhundert wirkte, ist in der ganzen arabischen Welt für seine Wunderkraft der Heilung von psychisch gestörten Menschen berühmt. Nach vielen Jahren Freundschaft wurde ich von dem A’lim d.h. Vorsteher, Lehrer dieser Bruderschaft eingeladen am Leben dieser Bruderschaft teilzunehmen. Die Erfahrungen und Beobachtungen, die ich in diesem Rahmen erleben durfte, waren in der Tat schwer mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erklären. Nur durch die Einbeziehung der Mystik, zu der auch der Trancezustand gehört, mit dem verschiedene Assoziationen „konstruiert“ werden können, ist man imstande, Antworten auf das „Erfahrene“ zu liefern.
Das Verhältnis von Naturwissenschaften und Religion ist im abendländischen Kulturkreis geprägt von gegenseitigem Misstrauen und einer langen Konfliktgeschichte. Frühere Naturforscher und Denker wie Galileo Galilei und Kopernicus haben Gesetzmäßigkeiten der Natur aufgeklärt und komplexe Zusammenhänge zwischen diesen aufgehellt.
Unter Berufung auf die spezifische Art des naturwissenschaftlichen Verfahrens der Erkenntnisgewinnung, nämlich das Experiment und die Verzahnung von experimenteller Methode und Theorienbildung, konnte die Naturwissenschaft für sich in Anspruch nehmen, über ein Wahrheitskriterium zu verfügen, das ihre Ergebnisse und Aussagen als universell gültig, als objektiv richtig erweist.
Andererseits reklamiert auch die Mystik als Teil der Religionsausübung, die sich durch große Vielfalt und einen ungeheuren Formenreichtum auszeichnet, Erkenntnisse durch Erfahrung, durch das Experiment gewinnen zu können. Die religiöse Maxime „cognito dei experimentalis“, also das Erlangen der Gotteserkenntnis durch Erfahrung, unterstreicht diesen Anspruch.
Was die Mystik betrifft, so gibt es nicht die Mystik, auch nicht die westliche oder die orientalische Mystik, sondern vielmehr eine Fülle verschiedener Ausdrucksformen mystischer Existenz wie die der Hagiographie (d.h. die Lebensbeschreibung der Heiligen) in muslimischen und christlich geprägten Ländern. Die Mystik, diese besondere Form der Religiosität, bei der der Mensch durch experimentelle Hingabe und Versenkung zur persönlichen Vereinigung mit Gott oder einem Heiligen zu gelangen sucht, wird bei einigen Unterschieden in den beiden Kulturkreisen mit der gleichen Frömmigkeit ausgeübt.
Zur Frage, ob der Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion deswegen besteht, weil jede für sich die Wahrheit beansprucht, kann jedenfalls bemerkt werden, dass sich ohne Zweifel die Methoden für die Gewinnung von Erkenntnissen durch Erfahrungen in den beiden Gruppen sehr unterscheiden.
Die Geschichte der Naturwissenschaften im 20. Jh. kann als eine Geschichte von Entdeckungen geschrieben werden, die oft die Vorstellungskraft der Menschen übertroffen hat. Doch stoßen auch die Naturwissenschaften an ihre Grenzen, wenn Phänomene mit den Methoden der Wissenschaft nicht gänzlich erklärt werden können: Die Besessenheit, die oft mit Ursachen religiöser Natur in Zusammenhang gebracht wird, ist eine dieser Erscheinungen.
Das Phänomen der Besessenheit als Grenzerfahrung eröffnet neue Dialogmöglichkeiten zwischen der Naturwissenschaft und religiösem Glaube und lässt auch einen anderen als nur den naturwissenschaftlich geprägten Erfahrungsbegriff zu. Allerdings bedarf es dazu als Voraussetzung der Kenntnis des nicht-naturwissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs, wie er beispielsweise in der Psychotherapie oder in bestimmten Ausprägungen der Besessenheit mit ihren Ekstase- und Trancesituationen zu finden ist.
Die „Erfahrung“ als wichtigster Bestandteil bei der Gewinnung von Erkenntnissen, steht hier im Zentrum des Dialogs. Erfahrung bedeutet im Fall der Besessenheit die Beschreibung des Menschseins, oder besser ausgedrückt, die Erfahrung mit der Seele oder dem Selbst der betroffenen Menschen. Doch die Seele oder das Selbst eines Menschen ist nicht so evident wie dessen Körper. Die Seele oder das Selbst einer Person ist eine unbekannte Erscheinung, die im Krankheitsfall im abendländischen Kulturkreis mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden und im orientalisch geprägten Ländern mit Hilfe mystischer Erkenntnisprozesse „sichtbar“ gemacht und behandelt wird.
Als Ausdruck mystischer Erkenntnis ist „Erfahrung“ – als Teil der Besessenheit – somit eo ipso Grenzerfahrung; denn nur auf der Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem bzw. zwischen Innen und Außen entsteht hier „Erfahrung“. In dem Begriff Erfahrung steckt das Wort „Fahren“, das vorzüglich auf die Darstellung des Fahrens zwischen dem materiellen Wesen des Menschen und seinem Sein oder Selbst, und zwischen seinen Zuständen von Besessenheit und „Normalität“ hinweist.
Auf jeden Fall stehen die morgenländischen mystischen Erfahrungen der Besessenheit und die diesbezüglichen westlich geprägten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in offensichtlichem Gegensatz zueinander. Beide Richtungen kennen jedoch den Zustand der Besessenheit – jeweils nach ihrem eigenen Verständnis – als eine Grenzerfahrung im Leben eines Menschen.

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Liederabend, 24. November 2016 FM Kolloquium 8. Münchner Freimaurer Kolloquium
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